ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 1 | 24.09.2020
 
Geschichte lebt lautete unlängst die Überschrift eines Artikels in der Siegener Zeitung zu einem lokalen Heimatmuseum, aber als Einstieg in diese Serie ist wohl besser die Überschrift geeignet: Das Wunder von Siegen. Das ist fast 50 Jahre her und damit historisch und museumsreif, aber wenn man die Geschichte erzählt, fängt sie an zu leben…
 
Man schrieb das Jahr 1972. Das international besetzte Rock-Musical Hair gastierte Ende Januar/Anfang Februar sechs Abende lang in der stets ausverkauften Siegerlandhalle zur Freude der "Flower Power"-Anhänger und Gesellschaftsveränderer und zum Ärger der konservativen Bevölkerung. Die frommen Kreise verteilten Traktate unter den auf Einlass wartenden Besuchern, heftige Diskussionen waren die Folge. Und dann geschah das Unerwartete und Unvorstellbare: Am 2. Februar 1972 berichtete die Siegener Zeitung vom Ausstieg der Hair-Darsteller Markus Egger, Ina Orme und Peter Helms. Die drei fanden Asyl in der Heilsarmee in der Siegener Friedrichstraße, das gutbezahlte Tourneeleben hatte ein jähes Ende gefunden und keiner der Künstler wusste, wie sie die ihnen angedrohten Konventionalstrafen bezahlen sollten. Markus Egger gründete später in Hannover die Band Semaja. Den Artikel der Siegener Zeitung kann man in der GospelNetwork-WebSite nachlesen; die Abbildung ist mit einem Link versehen:



(Redaktionelle Ergänzung: Bericht über ein Treffen der "Hair-Aussteiger" in 2013
www.ojc.de/salzkorn/2013/advent-erwarten/haarige-umkehr-interview-mit-hair-saenger-peter-helms)

Die Siegerlandhalle bot damals bestuhlt 2.200 Plätze, also dürfte es etwa 13.000 Besucher gegeben haben für dieses für damalige Zeiten revolutionäre Musikereignis. Der von "Hair" propagierte Lebensstil war eine Provokation auch des frommen Volks, das seinerzeit zwar auch schon aufgebrochen war in modernere Zeiten, aber natürlich kein Freund war von "Sex & Drugs & Rock 'n Roll" und was immer sonst noch an Gedankengut oder -schlecht transportiert wurde. Der Ausstieg der drei Hair-Schauspieler hatte de facto eher zufällig mit Siegen zu tun, aber er öffnete der Entwicklung der christlichen Musikszene im Siegerland viele Türen, weil die Relevanz des musikalisch-kulturellen Geschehens erkennbar wurde. Das Wunder von Siegen war eine "Erweckung" in einem peripheren gesellschaftlichen Bereich und zugleich eine Ohrfeige für die regionalen etablierten Erweckungsverwalter. Ob so etwas heute noch einmal geschehen könnte und ob ein solches Ereignis auf die Region ausstrahlen würde, ist eher unwahrscheinlich. "Hair" ist bis heute unvergleichlich.
 
In Zeiten von Corona spricht man gerne von "Normalität" und hofft auf die Rückkehr zu eben diesen "normalen" Gegebenheiten. Im beginnenden Herbst 2020 nimmt man jedoch verstärkt die Erkenntnis wahr, dass es es dieses "normal" in vielen Bereichen nicht mehr geben wird. Es wäre besser, von einer Zäsur zu sprechen statt von Pause, denn alles, was in irgend einer Weise mit öffentlichen Veranstaltungen zu tun hat, wird "so" nicht mehr stattfinden und deshalb auch keine Relevanz mehr haben im kulturellen, gesellschaftlichen und gemeindlichen Geschehen. Eigentlich weiß es jeder: Was die Menschen nicht erreicht, interessiert sie auch nicht. Was immer man auch als "Gute Nachricht" definieren mag im Rahmen seiner musikalischen Betätigung – wird das von uns gewählte "Transportvehikel" in Zukunft geeignet sein, diese Nachricht zu den Menschen zu transportieren? Sprechen wir überhaupt noch die Sprache der Menschen von heute in der Zeit nach Corona?
 
Martin Luther war bekanntlich ein Meister darin, dem "Volk aufs Maul zu schauen" und er nutzte populäre Melodien seiner Zeit, um seine (revolutionären) Inhalte zu transportieren. Eine solche Kreativität wäre für die Zeit nach Corona ausgesprochen wünschenswert. Aber welcher Musik und welchen Songs  werden die Menschen ihr Ohr zuwenden? Mehr Choräle oder mehr Worship-Songs, mehr Gospel oder mehr Taizé? Mehr Rock oder mehr EDM? Volksmusik? Dies alles wird nicht nur eine musikalische Frage sein, sondern auch eine Frage der Inhalte. Die Menschen brauchen das Evangelium nicht mehr, das "christliche Abendland" ist für viele nur noch eine Worthülse. Die "Erweckung" in unserer Region liegt gefühlt tausend Jahre zurück und die "gute alte" Zeltmission gibt es auch nicht mehr. Was gäbe es also noch zu "sagen", was gehört werden könnte? Und wo würde dies stattfinden? Ich bin sicher, dass ein Martin Luther unserer Zeit gute Antworten auf die Corona-Fragen finden würde. Ohne Quer- und Neudenker und Kreative und Reformer und Ausprobierer wird sich in Zukunft nichts mehr bewegen. Wer nur das tut, was er immer schon getan hat, der dürfte sehr bald in der Versenkung verschwinden.
 
Christliche Musik steht immer in einem Spannungsfeld interner und externer Interessen. Sie gehört "zur Gemeinde", aber sie ist auch eigenständiges Kulturgut und will als solches wahrgenommen werden und "gefragt" sein. Letztlich geht es darum, wie viele Füße man bewegt - egal wo und unter welchen Umständen. Nichts gegen Konzerte mit abstands- und hygienegerechten Besucherzahlen, aber nach Corona sollen und müssen die Besucherzahlen wieder deutlich ansteigen. Ein "seid getreu im kleinen" ist definitiv der falsche Ansatz und auf Dauer werden Subventionen oder Kollekte-/Hutsammlungsaktionen keine belastbaren Lösungen sein, von der Frage der Legalität ganz abgesehen. Das Budget einer Veranstaltung muss zukünftig wieder an der Kasse generiert werden (alle digitalen Inkasso-Lösungen selbstverständlich inbegriffen). Auch Musik und Kultur folgen dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Nur das, was "gekauft" wird im Sinne des Besuchs von Konzerten oder dem Erwerb von Tonträgern oder Streaming Lizenzen, kann sich in der Gesellschaft und in der Gemeinde etablieren.
 
Erfolg kann man nicht "machen", sondern er hat mit Konstellationen zu tun. Right time, right place, right people, sagt der Angelsachse, und dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Wer wird NACH Corona der/die/das Richtige sein mit einem Angebot, das die Menschen erreicht und begeistert?
 
Hans-Martin Wahler



Zuschriften


24.09.2020

Dieses Interview habe ich kürzlich gefunden:

https://www.ojc.de/salzkorn/2013/advent-erwarten/haarige-umkehr-interview-mit-hair-saenger-peter-helms

Christof Nickel



01.10.2020

Zukunftswerkstatt „Christliche Popmusik (CPM) nach Corona“

Der erste Gedanke, der mir nach dem Lesen des Artikels kam, war, ob das nicht auch wieder eine Thematik der „alten weisen Männer“ und „Babyboomer“ ist, die ja im Moment entweder für alles geschehene Elend oder eben die Zukunft verantwortlich gemacht werden… Aber ernsthaft: Wir reden hier ja letzten Endes über eine theologische Frage und „Not“, weniger über musikalische Stilistiken, Entwicklungen und Geschmäcker. Wir merken, dass und wie sich Glaube, christliches Leben, Kultur nicht erst seit oder wegen Corona in den letzten Jahren verändert haben. Im angesprochenen Hair-Musical gibt es den „Aquarius-Song“: „When the moon… - this is the dawning of the age of Aquarius “. Wir leben offensichtlich nicht mehr im christlichen Fisch-Zeitalter, sondern im NewAge, gekennzeichnet durch Globalisierung, Nationalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, religiösen Pluralismus etc. Das hat doch auch entscheidenden Einfluss auf die Musikszene und das Ganze spielt sich eben zur Zeit „vor unseren Augen“ ab.

Ich greife einige Gedanken des Textes auf.
Zur „Vergangenheitsbewältigung“:

Die Bekehrung der Hair-Musiker, die Jesus-People-Bewegung in den USA und Europa, die großen Besucherzahlen christlicher Veranstaltungen wie OAS, die Akzeptanz christlicher Musiker usw. in den 60er bis 80er Jahren lassen sich doch durchaus unter dem theologischen Begriff „Kairos“, ein von Gott geschenkter besonderer Zeitabschnitt, beschreiben. Es war eben eine Offenheit, Interesse und Bereitschaft unter Jugendlichen für religiös-christliche Angebote vorhanden. Es gab eine Sammlung von begabten und ambitionierten Musikern, investitionsbereiten Verlagen, offenem, reisebereitem Publikum, missionarisch bewegten Veranstaltern und Gemeinden, also in der Tat „right time, right place, right people“. Neben den Einbrüchen oder „Krisen“ der christlichen Popmusik 1986, 1991 und heute spielen für uns in Deutschland meiner Beobachtung zufolge die Jahre nach 1989 (Wiedervereinigung, wirtschaftlicher Aufbau der östlichen Bundesländer) eine unterschätzte Rolle, da hier Kirchen und christliche Werke Gelder in erster Linie in die Strukturen und Organisationen gesteckt haben, was zu einem Einbruch der Konzertveranstaltungen geführt hat; andere Aufgaben waren wichtiger als die Musik-/Konzertarbeit.

Corona könnte so eine (positive) Zäsur sein, wenn Wille, Ideen und Energie für eine Veränderung und Neugestaltung von Politik, Gesundheitswesen, Umweltverhalten usw. vorhanden sind, aber in vielen Bereichen orientieren und sehnen wir uns nach dem Alten, „Normalität“, auch im christlich-kirchlichen Umfeld, weil ja vieles auch bleiben wird und muss. Die Leute wollen auch wieder ins Stadion, die Kneipe, in Urlaub fliegen. Hier gilt der Satz natürlich auch andersrum: Was die Menschen nicht interessiert, erreicht sie nicht. In Krisenzeiten haben Religionen und Kirchen nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie bewähren sich und fallen positiv auf, oder sie beschäftigen sich weitgehend mit sich selbst und tauchen im schlimmsten Fall sogar unter.

Zur Musik/Musikszene

Wir „Alten“ haben christliche Popmusik als missionarisches Medium gesehen und wurden von den Veranstaltern auch überwiegend so eingesetzt. Meine Beobachtung und These ist, dass zeitgenössische Worship-Musik eher „anti“-missionarisch, introvertiert, gemeindeorientiert ist, musikalisch zwar in aktuellem Gewand, künstlerisch-inhaltlich aber eher regressiv. Überleben werden meiner Einschätzung nach Kinderproduktionen, Chor-/Musicalprojekte, Event orientierte Angebote. Die Musikrichtungen wachsen sich mit der jeweiligen Jugendgeneration auch „aus“, d.h. manche Musik überlebt sich, es gibt Traditionsabbrüche. Wer mit Jugendlichen/Schülern zu tun hat, weiß, wie schnell das geht.

Wir müssen auch die Lage der professionellen christlichen Musiker, Techniker etc. vor Augen haben, die natürlich die bittere Notwendigkeit und ein höchstes Interesse daran haben, wieder in die „alte Normalität“ zu kommen. Interessanterweise gibt es viel Lob und Gotteslob in den YouTube-Kommentaren zu den zur Zeit talentiertesten jungen (13-30jährigen) Instrumentalisten der JazzRock-Szene wie Joey Alexander, Justin Lee Schultz, Cory Henry, Yohan Kim, Jesus Molina und Musikern aus dem SnarkyPuppy-Umfeld, die alle einen christlichen Hintergrund haben und auch christliche Songs in ihren Konzerten featuren. (Ungeplant) missionarisch wirken also eher säkular aktive Musiker.

Karl-Friedrich Wahler




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