ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 14 | 16.12.2021

Ja, wo singen sie denn…?

In dem oben abgebildeten Gebäude definitiv nie wieder. Dies war einmal eines von zwei Gemeindehäusern einer Kirchengemeinde in Siegen, die vor einigen Jahren von einer anderen Kirchengemeinde übernommen wurde und dann recht zügig aus ihren beiden Stadtbezirken verschwand. In den besten Zeiten des Hauses in 1A-Wohnlage Siegens fanden 250 und mehr Besucher den Weg in den Gottesdienst, die Jugendarbeit des CVJM erreichte über 150 junge Menschen. Das ehemals so intensiv genutzte Gemeindehaus nebst angrenzendem Kindergarten und Wohnungen für Küster und Gemeindeschwester ist heute ein modern gestalteter, komfortabler Wohnkomplex in kirchlichem Eigentum. Geblieben ist der nach wie vor atemberaubende Blick auf weite Teile der Stadt. Das zweite und deutlich ältere Gemeindehaus im Tal wurde verkauft und dient heute einer Bildungsorganisation als Büro- und Tagungshaus.
 
So wie diese beiden Gemeindehäuser sind in den letzten Jahren viele Zentren gemeindlichen Lebens aus der Nachbarschaft verschwunden. Immer mehr Kirchengemeinden werden zusammengelegt, weil nicht nur die Nutzung der Gebäude geringer geworden ist, sondern eben auch die Zahl der Steuer zahlenden Mitglieder. Deshalb wird alles, was "in die Jahre gekommen" ist und entsprechend viel Geld zur Unterhaltung bzw. Erneuerung benötigt, auffällig schnell abgestoßen – entsorgt sozusagen. Nicht zu vergessen die vielen Vereinshäuser, die ebenfalls nicht mehr der Wortverkündigung dienen. Unlängst hat sogar die Heilsarmee die Segel gestrichen in Siegen – mangels Beteiligung und Interesse. Der ehemals so bunte Blumenstrauß namens Gemeindelandschaft sieht heute kahl und farblos aus.
 
Das ist eben so, ist man geneigt zu sagen. Es ging den Bäckereien und Fleischereien, den Schulen, den Postfilialen, den Banken, den Tankstellen und den Telefonsäulen ja auch nicht anders und das "Kneipensterben" ist ebenfalls kein unbekanntes Phänomen. Wer in einem Dorf wohnt, der findet oft keinerlei Infrastruktur mehr, von Wasser, Gas, Glasfaser oder 5G mal abgesehen. Gleichwohl entdeckt man heute gerade in Dörfern und Stadtteilen bewundernswerte Initiativen, ehemalige Schulen, Kirchen, Gemeinde- und Vereinshäuser in Form eines Bürgerhauses unter ehrenamtlicher Leitung und Leistung zu erhalten.
 
Jedes geschlossene Gemeindehaus und jede entwidmete Kirche bedeutet nicht nur weniger nutzbaren "Raum" für die christliche Musik- und Kulturbetätigung, sondern stringent auch eine Verschlechterung der zukünftigen "Arbeitsbedingungen". In der landeskirchlichen Landschaft ist die Tendenz unverkennbar, die deutlich älteren Kirchen zu erhalten, statt jüngere, besser nutzbare und besser erreichbare Gebäude in den Mittelpunkt der Arbeit zu rücken und diese auf die Zukunft auszurichten. Dies hat sicherlich gute und nachvollziehbare Gründe, aber es bedeutet eben auch, dass zeitgenössische Musik zukünftig gezwungen sein wird, vollkommen ungeeignete Gebäude zu nutzen. Manches wird sicherlich in eine 100 oder 500 Jahre alte Kirche passen, vieles aber auch nicht (mehr).
 
Schon in den Anfangsjahren der Szene gab es auf Seiten der Akteure die Tendenz, den gemeindlichen Räumen und Veranstaltungen (z.B. Jugendwochen) den Rücken zu kehren und seinen eigenen Weg mit Konzerten in "neutralen Räumen" zu entwickeln. Die Idee dahinter war, den "Stallgeruch" hinter sich zu lassen und neues Publikum gewinnen zu können. Bei der Entwicklung und Ausbreitung der Worship-Musik nach 1990 fiel jedoch eine "Nebenwirkung" auf, dass die gemeindlichen Räume und damit die gemeindliche Anbindung wieder deutlich mehr betont wurden. Interessanterweise sind alle Versuche, Worship in säkularen Räumen als übergemeindliche Veranstaltungen in neutralen Räumen zu beheimaten, nach relativ kurzer Zeit gescheitert. Die "Cologne Worship Night" sei als Positiv- und Negativbeispiel genannt.
 
Daraus entstand die paradoxe Situation, dass Gemeinden vorgeben, was ihnen als Musikdarbietung genehm ist. Sie stellen die Infrastruktur, Logistik und Organisation und die Akteure müssen sich auf diese Strukturen einstellen. Das großflächige Verschwinden ehemals kirchlicher und gemeindlicher Gebäude hat zur Folge, dass "Bewährungsraum" verschwindet für das christliche Musikschaffen. Entweder man kommt mit deutlich ungeeigneteren Räumen zurecht (z.B. hallige Kirchen), oder man arrangiert sich mit den Auflagen der Gemeinden, um deren gut ausgestattete Räume nutzen zu können. Das Risiko, dies alles in einem "neutralen Raum" in Form eines Konzertes zu bündeln, ist hoch und wird eine Hürde darstellen, die nur wenige überwinden können. Wenn man das alles bezahlen soll, was die Gemeinden quasi kostenlos und unter Vermeidung von GEMA-Aufführungsgebühren möglich machen, dann wird der Spielraum deutlich enger, wenn nicht sogar zu eng.
 
Ja, wo singen (und spielen) sie denn? Der Spruch stammt bekanntlich aus dem Film "Ein Münchener im Himmel", der Kult-Status hat eben wegen seiner markanten Sprüche. Schon heute ist das schwierig geworden mit diesem Singen und Spielen und in Zukunft wird es noch deutlich schwieriger werden, weil Corona sehr viel mehr zerstört hat, als fehlendes Geld zerstören kann. Die Motivation ist großflächig auf der Strecke geblieben, bei den Akteuren ebenso wie bei den Konsumenten. Es wird lange dauern bis diese "Zahnräder" wieder ineinander greifen können.
 
Um noch einmal auf die oben erwähnte und an Immobilien reiche Kirchengemeinde zurückzukommen: Die verbliebene historische und Stadtbild prägende Kirche ist für Konzerte von Bands und Band-Besetzungen reichlich ungeeignet und der Saal im ersten Stock des Gemeindehauses, das direkt neben der Kirche liegt, ist nur über steile Treppe oder eine enge Notausgang-Brücke aus Stahlgittern zu erreichen. Kirche und Gemeindehaus sind also für heute übliche Musik-Produktionen schlicht nicht nutzbar und können entsprechend auch nicht Teil des Gemeindelebens werden.
 
So und ähnlich wird sich die Situation für Musikschaffende überall in diesem unseren Land darstellen. Wenn man nicht das Lied dessen singt, der es bestellt und bezahlt oder zumindest duldet, dann wird man mit seiner eigenen Musik kaum noch "Platz in der (gemeindlichen) Herberge" finden. Das oben gezeigte ehemalige Gemeindehaus war übrigens eine der "Geburtsstätten" von Damaris Joy…
 
Hans-Martin Wahler.



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