ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 17 | 24.03.2022

Aufwachen in einer anderen Welt
 
Es wird noch Menschen in Siegen geben, die sich an die martialischen Geräusche der Leopard-Panzer erinnern, die viele Jahre lang mitten durch die Innenstadt gefahren sind. Der Weg der belgischen Panzer führte von der Heidenberg-Kaserne über den Bahnhofsvorplatz und die Rundbrücke über die Bahn hinauf auf den Wellersberg und von dort über die „Panzerstraße“ weiter zum Truppenübungsplatz. Und nach Abschluss der Übungen natürlich auf demselben Weg wieder zurück. Wer einmal eine solche „Durchfahrt“ einer Panzerkolonne live erleben konnte, der war sehr beeindruckt nicht nur wegen des Lärms, sondern vor allem wegen der Erschütterungen des Bodens. Siegen war wohl die einzige Stadt, die ein solches Spektakel live in der Innenstadt bieten konnte.
 
Man muss heute lange suchen, um die Überbleibsel der Militärpräsenz in Siegen entdecken zu können. Vier große Kasernengelände, ein weitläufiges Logistikareal mit Gleisanschluss, das Munitionslager, die Schießstände und der Truppenübungsplatz sind nach dem Abzug der Belgier neuen Nutzungen zugeführt worden. Fast alle der ehemals zahlreichen Gebäude sind abgerissen worden. Die Panzer-Wartungshalle des Logistikzentrums auf der Schemscheid (Bildcollage ortsgleicher Motive oben) steht jedoch noch und dient heute als Produktionsstätte für Kunststoff-Materialien.
 
Wir sind tatsächlich in einer anderen Welt aufgewacht am Tag des Einmarschs russischer Truppen in die Ukraine. Die Außenministerin unseres Landes, Annalena Baerbock, fand am 24. Februar diese Worte und die nachfolgenden Tage und Wochen waren eine Erfahrung, die sich niemand hat vorstellen können oder wollen. Auf einmal war wieder Krieg in Europa. Viele werden noch etwas mit dem Begriff „Kalter Krieg“ anzufangen wissen. Die in Siegen stationierten belgischen Truppen waren die mit Händen greifbare Manifestation einer Situation, die sonst erst an der innerdeutschen Grenze, am sogenannten „Eisernen Vorhang“, konkret wurde. NATO und „Warschauer Pakt“ standen sich dort nur wenige hundert Meter entfernt frontal gegenüber. Aber es ließ sich gut leben unter dem Schutz der Alliierten und wir waren gewöhnt an den „Frieden in Europa“, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sogar Länder des früheren Ostblocks umfasste. „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Ami go home“ waren seinerzeit oft zitierte Sprüche.
 
Für uns als christliche Musiker war es damals kein Politikum, „behind the Iron Curtain“ zu arbeiten, sondern eher ein Abenteuer. Die diversen Besuche in der DDR, bei denen man ein „Grußwort“ sang und spielte – Konzerte waren ja nicht erlaubt – und die vielen Kontakte nach Ostberlin und in die DDR sind in lebhafter Erinnerung geblieben. Auch der innerdeutsche Austausch im Rahmen des internationalen „Christian Artists Seminar“ in Holland gehörte zu den Episoden, die man längst als Geschichte abgeheftet hatte. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass wir (Damaris Joy) auch mehrere Konzerte in Bundeswehr-Kasernen und sogar auf einem großen Flugtag der US-Army gespielt haben. Das passte alles in unser Weltbild von West (gut) und Ost (böse).
 
Plötzlich und unerwartet kommt das alles wieder bedrohlich nahe. Die Bilder und Berichte vom Krieg in der Ukraine gehen unter die Haut. Der in Vergessenheit geratene Gegensatz von Ost und West begegnet uns in einer neuen Form und in einer Brisanz, die erschrecken lässt. Sozusagen über Nacht wurden wir sämtlicher Illusionen beraubt, die unser Leben so lange und nachhaltig geprägt haben. Wir werden uns binnen kürzester Zeit umstellen und an neue Gegebenheiten gewöhnen müssen.
 
Mit „wir“ meine ich auch die Akteure der christlichen Musikszenen. Lieder können sicherlich keine Panzergeräusche oder Raketeneinschläge übertönen, aber sie geben Menschen Orientierung und Halt. Es kommt nicht von ungefähr, dass der vor 1971 veröffentlichte Song „Imagine“ von John Lennon und Yoko Ono und ebenso „Give peace a chance“ aus dem Jahre 1969 heute gerne gespielt und gehört werden (der Vietnam-Krieg fand von 1964 bis 1975 statt). Zu „Imagine“ weiß Wikipedia zu berichten: „Das Stück beschreibt die Vision einer Gesellschaft frei von Religion, Nationalismus und Besitz, ist ein Aufruf für den Frieden und gilt als eine Hymne der Friedensbewegung“.
 
Es geht nicht darum, einen Jahrhundert-Hit wie „Imagine“ schreiben zu sollen und „John-Lennon-Momente“ (Zitat aus der Siegener Zeitung von gestern) zu generieren, sondern darum, in der uns eigenen Weise in Worten und Tönen das ausdrücken zu können, was Menschen heute bewegt. Eine „andere Welt“ braucht andere Songs. Vermutlich wird man viele Songs der Vergangenheit einmotten können. Aber vielleicht wird man andere, völlig in Vergessenheit geratene Songs neu entdecken und lernen, sie in der heutigen Zeit zum Klingen zu bringen und in unsere Gegenwart hinein zu singen.

Hans-Martin Wahler




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