ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 3 | 19.11.2020

In 2020 hatte dieses Konzert sein 40-jähriges Jubiläum. Andrae Crouch & The Disciples mit "special guest" Leon Patillo (Ex-Keyboarder und Sänger von Santana) gastierten am 13. März 1980 in der Siegerlandhalle. Siegen und Hof waren die einzigen deutschen Stationen der Europatournee. Der bekehrte Fremdenlegionär und Kulturredakteur Wolfgang Zöller (WOZ) fühlte sich geneigt, dieses Konzert in der Siegener Zeitung mit einem grandiosen Verriss mit der Überschrift "Zuhörerschaft verfiel in ekstatische Zuckungen" zu würdigen. Und nicht nur dieses Konzert war sein Opfer, sondern quasi alle Konzerte der seinerzeit jungen christlichen Musikszene. Für WOZ war das alles nur höllischer Krach und "unwürdig des Evangeliums". Wie dieses Konzert nach Siegen kam? Die veranstaltende Konzertagentur aus dem hessischen Hüttenberg (Blue Rose/Gospelcontact) hatte ein gewisses Finanzproblem mit der Verwaltung der Siegerlandhalle, also wurde eine vertrauenswürdige lokale Person gesucht, die für die ordnungsgemäße Abwicklung geradestehen konnte. Diese Person war 22 Jahre jung, beruflich im Zivildienst (Wehr-Ersatzdienst) engagiert und musikalisch in der Region aktiv. Es lief alles bestens, der Besuch zu Eintrittspreisen von 10 DM im Vorverkauf und 13 DM an der Abendkasse war überwältigend gut. Selbst aus Hamburg reisten Besucher an. Die Siegerlandhalle erhielt ihr Geld, die amerikanischen Musiker, die holländische Crew, das Busunternehmen, das Hotel und die Agentur ebenso. Erst viel später ist mir klar geworden, was für ein immenses Wagnis dieses Projekt darstellte. Nach heutigen Werten würde sich das Budget auf schätzungsweise 30.000 Euro belaufen. Sicherlich zu viel für einen jungen Menschen ohne nennenswert Geld auf dem Konto…

Das Konzert von Andrae Crouch und auch das von The 2nd Chapter of Acts in 1981 waren zweifelsohne herausragende Ereignisse. Sie gehörten zu einer langen Reihe von Konzerten und Festivals mit internationalen und nationalen Interpreten, an denen die Band-Age in irgendeiner Weise beteiligt war. Die "Band-Age" war ein lockerer Zusammenschluss der christlichen Bands und Musiker im Siegerland, der im August 1985 sein zehnjähriges Jubiläum feierte mit einem zweitägigen Gospel-Night-Festival in der Netphener Eisbahn. "Gospel" stand damals für die Inhalte, nicht den Musikstil. Ein zentraler Gedanke hinter den Konzerten der "Band-Age" war, der regionalen christlichen Musikszene Impulse zu geben und den Dialog mit nationalen und internationalen Musikern zu fördern. Man kann die Idee auch ganz schlicht so beschreiben: Jeder Musiker braucht die Erkenntnis, dass Andere ihren Job besser und viel besser machen, als man selbst dazu in der Lage ist. Wenn man das begreifen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen kann, dann wird Neues entstehen, das Prägnanz und Bestand hat. Konkurrenz ist sicherlich kein "schönes" Wort, aber ein notwendiges. Musikmachen bedeutet nicht "Kunst um der Kunst willen", sondern dass alle Akteure und Anbieter in einen Wettbewerb miteinander gestellt sind, eben den Wettstreit um die Aufmerksamkeit und Gunst des Publikums.

Musik will und muss gehört werden, also standen und stehen Auftritte/Konzerte/Events an alleroberster Stelle der Agenda der Musikmachenden. Zugleich soll und muss Musik aber auch verkauft werden, was heute zunehmend weniger Tonträger wie CD's meint, sondern Downloads und Musik-Streaming, deren Erträge allerdings bei Musikschaffenden nur sehr ausgedünnt ankommen – wenn überhaupt. Die Internet-Livestreams setzen die Abwertung von Musik und Urheberrechten gnadenlos weiter fort. Natürlich darf überall gespendet werden, aber was kommt dabei herum? Man kann dem Zuschauer am Bildschirm eben nicht den Hut oder den Kollektenbeutel auffordernd unter die Nase halten. Interessanterweise hat "Corona" eine neue Konzertform entstehen lassen mit einem hybriden Konzept von Präsenzpublikum und gleichzeitigem Livestream. Für beides muss man bezahlen, um es miterleben zu können. Definitiv ein Schritt in die richtige Richtung.

"Corona" ist noch lange nicht ausgestanden und wird noch vieles von der Bildoberfläche verschwinden lassen, aber es sind wieder einmal die Alten, die ihre Erfahrung nutzen und in der jetzigen schwierigen Zeit Akzente setzen. Da ist ein Siegfried Fietz nebst Sohn Oliver Fietz, die im Wechsel jeden Sonntag um 18:00 Uhr ein Livestream-Konzert anbieten. Dies tut Judy Bailey täglich mit einem "Hopesong", Clemens Bittlinger, Christoph Zehendner, Samuel Harfst und Andi Weiss präferieren die wöchentliche Variante. Wer die Namen kennt, der wird wissen, dass es sich hier profilierte Musiker handelt, die wissen, wie man sich in der Öffentlichkeit verhalten muss. Wie im (ehemals) "normalen Leben" geht es im Internet auch um kontinuierliche Präsenz. Es reicht nicht aus, "mal" ein paar Songs oder eine einzelne Veranstaltung zu streamen, sondern dies muss regelmäßig geschehen und es muss so umgesetzt werden, dass die Sendungen attraktiv sind und ständig neue Zuschauer generieren. Ohne gute Musik, guten Sound, gutes Licht und gute Regie kann und wird das nicht funktionieren.

Und man muss Ideen entwickeln, um die alte Erkenntnis, dass der Wert einer Musikdarbietung durch den Erlös an der Konzertkasse bestimmt wird, auch für Livestreams anwenden zu können. Erfahrungsgemäß teilt sich das Gesamtbudget eines Konzertes auf ein Drittel Musik, ein Drittel Technik/Produktion und ein Drittel örtliche Kosten/Werbung/Organisation. Auch bei Livestreams gibt es diese Kostenstellen, sicherlich in etwas veränderter Konstellation, deshalb kann "umsonst" keine Perspektive sein. Und zweifelsohne wird die mediale Vermarktung von Musikangeboten zukünftig eine entscheidende Rolle spielen. Von den Künstlern wird eine umfassende Präsenz verlangt, die konsequent gestaltet ist. Man kann es auch die Digitalisierung des Musikschaffens nennen. Alles nichts Neues, aber zukünftig viel besser konzipiert, breiter angelegt und ständig aktuell und interessant gehalten. Es gibt keine "Stille Zeit" in den Medien. Trotzdem wird das alles nichts sein ohne Songs, die berühren und Gedanken auf den Punkt bringen. Ohne dieses "Kerngeschäft" kann Musik nicht funktionieren, egal ob live oder hybrid und analog und digital…

"Corona" beschleunigt diese Prozesse und Veränderungen enorm. Die Frage wird sein, ob sich neue "Pioniere" und Wagemutige finden werden, die mit dem agieren können, was ihnen heute und morgen an Möglichkeiten und Herausforderungen vor die Nase gelegt ist.


Hans-Martin Wahler


 
Konzertkritik von Wolfgang Zöller in der Siegener Zeitung vom 24.03.1980

Zuhörerschaft verfiel in ekstatische Zuckungen
Crouch-Disciples-Patillo präsentierten frenetische Orgie zur Ehre Gottes

Siegen, 24. März. Der missionarisch aufgemotzte Musikimport aus den USA schlug ein wie’s schiere Donnerwetter. Die perfektgemachte Synthese aus Disco-Supershow und Jesus-People-Public-Polterei von Andrae Crouch und den Disciples sprengte gestern abend die seit Tagen ausverkaufte Siegerlandhalle beinahe in die Luft, nachdem Soloentertainer und Ex-"Santana"-Mitglied Leon Patillo zuvor mit viel Stimmgewalt und elektronischer Orgel seinem überwiegend jungen Publikum mächtig eingeheizt hatte. Was da von der Bühne her im Saal entfesselt wurde, war eine frenetische Orgie aus Rhythmus, Klang, Bewegung und bunten Lichteffekten, letztere munter durcheinander gestrahlt von einem ausgeklügelten Scheinwerfersystem.

Hüllen normalen Verhaltens fielen

Der aus zahllosen Lautsprechereinheiten donnernde Lärm übertraf zweifellos die im Ultra-High-Power-Schmelzofen der Krupp Stahlwerke Südwestfalen erzeugten künstlichen Schnellfeuer-Gewitter unter Einwirkung von 75.000 Volt. Das sich grötenteils aus den christlichen Jugendkreisen des Siegerlandes rekrutierende, aber in kleinen oder größeren Gruppen auch von ziemlich weither angereiste Publikum warf nahezu alle Hüllen normalen Verhaltens von sich und ließ die Stimmung mit Klatschen Pfeifen, Trampeln und schrillem Geschrei zu einer Ekstase überkochen, die jeden Karnevalsverein hätte vor Neid erblassen lassen – und das, wohlgemerkt, alles zur Ehre Gottes!

Vibration und Farbe

Irgendeine in der Gegend der hessischen Stadt Wetzlar agierende Konzertagentur namens "Gospelcontakt" hatte in Zusammenarbeit mit einer in Siegen ansässigen "Band AG" veranstalterisch zugeschlagen. Die christliche Krawall-Kombination Crouch-Disciples-Patillo – in Amerika offenbar wesentlich mehr im öffentlichen Geschäft als hierzulande – gab im Verlauf ihrer gegenwärtig durch Westeuropa vibrierenden Tournee in der Bundesrepublik nur zwei Konzerte, nämlich in der bayerischen Stadt Hof und in Siegen. Farbe präsentierten nicht nur die bunten Lampen auf der Bühne, sondern vor allem auch die Haut von Leon Patillo und Andrae Crouch und dem größten Teil der aus fünf Damen und sieben Herren bestehenden Begleitgruppe "Disciples" (zu deutsch: "Nachfolger" oder "Jünger").

Rasende Rauschzustände

So entsprach denn auch das hyperlautstark servierte musikalische Stilgemisch aus Rock, Beat, Soul, Pop, Jazz, Spiritual und Gospelsound, untermalt durch viel rhythmisches Hüpfen und Zucken wohltrainierter Extremitäten, überwiegend der Mentalität und ausgeprägten Musikalität der kaffeebraunen Stars aus der Neuen Welt. Das ging in die Knochen, durchpeitschte das Nervensystem, verursachte auf den Trommelfellen jenen alle vernunftgesteuerte Selbstbeherrschung zerbrechenden Dauerreiz scharf an der Grenze des Erträglichen, versetzte die Zuhörerschaft in rasende Rauschzustände, ließ sie stehend stampfen und stöhnen.

Kritiklos aus der Hand gefressen

Das alles funktionierte – so etwas von Bühnenroutine und technischer Begeisterungsmaschinerie gibt es nun nicht mal alle Tage – derart hervorragend, dass die abenteuerliche Zusammenstellung aus rasanter Rummelrevue, evangelistischen Glaubenszeugnissen und (draußen im Foyer aufgezogener) Langspielplatten-Geschäftemacherei den Spektakel-Spezialisten aus der Hand gefressen wurde. Es war schon ein wahres Fest für den, der es miterlebte. Es bleibt eine ewige Bildungslücke für den, der nicht dabei war!

Aller Unmut schmolz dahin

Die in Pfeifen und Füßetrampeln geäußerte Ungeduld des jungen Publikums ob der zehnminütigen Verzögerung des Konzertbeginns mochte wohl vom Gedanken an die 10 oder gar 13 DM, die man für eine Einrittskarte ausgegeben hatte, herrühren. Solcher Unmut verfloss aber spätestens beim Anblick der großen Musikantenschar, die schließlich auch eine ihrem Ruhm angemessene Rechnung in einem der teuersten Nobelhotels des Siegerlandes zu begleichen hatte. Dafür gab man’s gern. Es war ja für die Sache des Herrn!





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