ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 6 | 25.02.2021

Wenn nicht jetzt, wann dann? Kirchenmusik in der Krise.
Ein Kommentar von Timo Böcking

Wenn nicht jetzt, wann dann? Jetzt, wo weite Teile des kommerziellen Kulturbetriebs zum Erliegen gekommen sind, muss Kirche ihr kulturelles Profil schärfen, in qualitativ hochwertige zeitgenössische Musik investieren und damit Relevanz zurückerlangen. Mit dieser These beschäftige ich mich im Folgenden mangels Qualifikation weder als Musikhistoriker noch als Theologe oder gar als Politiker. Sondern als Klavierspieler, der seine ersten musikalischen Erfahrungen in Kirchen und Gemeinden sammeln durfte, der die alten Choräle und neuen geistlichen Lieder genauso verinnerlicht hat wie

Entsprechend intensiv beschäftigen mich Dynamiken und Tendenzen rund um unsere Kirchenlandschaft und natürlich im Speziellen im Bereich der zeitgenössischen, popularmusikalischen Kunst und Kultur in unseren Gemeinden. Manchmal erinnern mich kulturelle Grabenkämpfe und hitzige Debatten um fallende Mitgliederzahlen an eine streitende Crew auf einem sinkenden Schiff, das einzig mit vereinten Kräften noch zu retten ist. Der Streit um die "wahre" Kirchenmusik, das Ringen um Relevanz in unserer Gesellschaft, die kräftezehrende Positionierung in unserer schnelllebigen Zeit und gleichzeitig das Lecken der alten Wunden: all das kann, um im Bilde zu bleiben, unser Schiff zum kentern bringen und in einem zerstreuten Heer von kleinen Bei- und Rettungsbooten enden. Oder aber es eint uns und führt uns zusammen in der Hoffnung, ein leuchtendes Beispiel zu sein für den konstruktiven, versöhnlichen und vorwärts gerichteten Umgang mit Differenzen - eine Disziplin, die in gesellschaftlicher und politischer Hinsicht immer rarer und damit notwendiger zu werden scheint.

Aber werfen wir zunächst mal einen Blick zurück und halten fest: seit vielen Jahrhunderten ist die Kirche auch ein Ort kulturellen Lebens und musikalischer Exzellenz. Bach, Schütz, Händel und Brahms sind genau so wenig aus den Kirchen wegzudenken wie aus den großen Konzertbühnen der Welt. Was sich die Kirchen heute die Kultur kosten lassen, sagen uns die nüchternen Zahlen eines Gutachtens für den Deutschen Bundestag: auf die jährlich rund 8 Milliarden Euro staatlicher Kulturfördermittel folgen mit ca. 4,4 Milliarden Euro jene der Kirchen. Und damit darf man die Kirche zumindest hinsichtlich ihres finanziellen kulturellen Engagements immer noch zu den wichtigsten Kulturorganen Deutschlands zählen.

Aber was sagen diese Zahlen über ihre Relevanz aus? Die Mitgliedszahlen der Kirchen sinken und gleichzeitig stellen immer mehr kritische Stimmen die Bedeutung der Kirche für unsere moderne Gesellschaft infrage. Nun soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, welche Entwicklungen und Gelegenheiten die Kirchen möglicherweise verschlafen oder bewusst abgelehnt haben und auch nicht darum, welche strukturellen Nachteile die großen Kirchen mit ihren trägen Verwaltungs- und Entscheidungsapparaten in unserer schnelllebigen Zeit haben. Vielmehr geht es darum, im Hier und Jetzt zu erkennen, wo Kirche ihre gesellschaftliche Relevanz erhöhen, ihre kulturelle Exzellenz, besonders auch im popularmusikalischen Bereich, ausbauen und beides besser miteinander verbinden kann.

Zur Exzellenz: Ich möchte es vorsichtig als Konsens bezeichnen, dass sich der kulturelle Exzellenzanspruch der Kirche in erster Linie auf die sogenannte klassische Kirchenmusik bezieht. Anders als in Nordamerika, wo Kirchenmusik und Popularmusik historisch und gesellschaftlich ganz anders miteinander verwoben sind, ist "unsere" Kirchenmusik in ein Fahrwasser geraten, in dessen homogenem Fluss sie in der Gefahr steht, sich selbst ins musikalische Museum zu befördern. Gleichzeitig bin ich persönlich fest davon überzeugt dass es richtig ist, das kostbare Erbe unserer kirchenmusikalischen Hochkultur zu bewahren und in seinen Fortbestand zu investieren. Allerdings darf das nicht zum Selbstzweck werden, sondern Kirche muss gleichzeitig genug Neues und Zeitgenössisches schaffen und fördern. Oder um es mit einem Zitat von Jean Jaurès auszudrücken: "Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers". Erfreulicherweise ist auf diesem Gebiet einiges in Bewegung: es zeichnet sich seit vielen Jahren eine Professionalisierung der kirchlichen Popularmusikausbildung ab, die mittlerweile in die Gründung von ersten kirchlichen Popakademien gemündet ist. Infolge dieser Entwicklung werden vermehrt Teil- und Vollzeitstellen im Bereich der kirchlichen Popularmusik ausgeschrieben und angetreten. Speziell im freigemeindlichen Bereich wurde schon deutlich früher eine Entwicklung hin zu modernen Worship-Songs vollzogen, die allerdings häufig im stilistischen Gegenpol geendet ist: keine Choräle und altvertrauten Texte mehr, die Generationen vor uns geprägt und getragen haben. Stattdessen Tendenzen hin zu der in Popmusik leider weit verbreiteten inhaltlichen Belanglosigkeit und musikalischen Banalität. Hinzu kommt, dass die Kehrseite des erfreulicherweise weiterverbreiteten Ehrenamts in Freigemeinden darin besteht, dass es großen Professionalisierungsbedarf gibt.

Die Qualität der zeitgenössischen Kirchenmusik spielt, ob man es sehen möchte oder nicht, eine Hauptrolle bei der Frage um die Relevanz und Zukunft der christlichen Kirchen. Wir müssen in Wort und Ton Qualität bieten. Oder um es in den Worten von Louis Armstrong und auch Leonard Bernstein zu sagen: "Es gibt nur zwei Arten von Musik: gute und schlechte."

Zurück von der Exzellenz zur Relevanz, und damit langsam zum Kern meiner These. Kirche schafft kulturelle Identität weit über ihren Mitgliederkosmos hinaus. Ihr Engagement kommt der ganzen Bevölkerung zugute, weil sie nicht nur ein altes Kulturerbe geprägt hat und pflegt, sondern auch Mäzenin zeitgenössischer Künste ist. Ausgerechnet im nicht-kommerziellen Charakter ihres kulturellen Engagements liegt möglicherweise eine einzigartige Chance, um in der Gesellschaft Relevanz zurückzugewinnen. Denn als Christen und Kirche ist unsere Profitorientierung nicht auf Geld und Materielles ausgerichtet, sondern auf Schätze im Himmel. Oder wie ein Freund von mir zu sagen pflegt: es geht nicht darum, dass es sich rechnet, sondern darum, dass es sich lohnt. Im säkularen Kultursektor rechnet sich derzeit praktisch gar nichts. Veranstaltungen sind entweder prinzipiell verboten oder müssen unter Hygieneauflagen stattfinden, die einen kommerziell rentablen Kulturbetrieb meistens unmöglich machen.

Der Kirche ist ohne ihr eigenes Dazutun ein temporäres Monopol zuteil geworden. Sie kann in einer Zeit der leeren Veranstaltungskalender Kunst & Kultur fördern und stattfinden lassen, ohne dass es sich zwangsläufig rechnen müsste. Letzteres war zwar vorher auch nicht grundlegend anders, aber entscheidend ist nu

Gleichzeitig wächst die Sehnsucht der Menschen nach kultureller Nahrung für ihre Sinne und Seelen. Wenn man Systemrelevanz als das notwendige Minimum dessen bezeichnet, was menschliches Dasein möglich macht, dann ist Kultur tatsächlich äußerst systemrelevant. Dies mag für manche eine streitbare These sein, aber fest steht, dass wir die Antwort erst bekommen werden, wenn es vielleicht zu spät ist. Fest steht natürlich auch, dass wir in Zeiten dieser Pandemie schmerzhafte Kompromisse zugunsten der Kontaktreduzierung machen müssen und sollten. Auch in unseren Kirchen. Keine Kontakte und keine Kultur, das belegt die Wissenschaft, sind allerdings tödlich: mittelfristig seelisch und langfristig körperlich. Und deswegen lohnt es sich, unter Berücksichtigung der geltenden Auflagen und Hygienekonzepte verantwortungsvoll Gottesdienste und so bald wie möglich auch wieder Konzertveranstaltungen in Kirchen durchzuführen. Damit ist eine Neu- oder Umkonzeptionierung von Veranstaltungen verbunden die wir nutzen sollten, um die Qualität zeitgenössischer Musik in der Kirche zu steigern und kulturelle Bandbreite auf hohem Niveau zu zeigen. Oder um es anders zu sagen: wir sollten die Macht der Gelegenheit nutzen. Einige Beispiele, teilweise auch aus meiner eigenen kleinen Werkstatt:

1. Wir können, noch mehr als sonst, hochkarätige Künstler aus verschiedensten Sparten als kreative Gäste in unsere Gottesdienste einladen. Besonders, wenn die Gemeinde nicht singen darf, können künstlerische Vorträge, von der Kirchenorgel über die Aktionskünstlerin bis zum Indie-Pop Duo, unseren Gebeten und Gedanken eine neue Form verleihen.

2. Wir benötigen mehr moderne Lieder in der musikalischen und inhaltlichen Sprache unserer Zeit, um in die Gefühlswelt und Realität der Menschen aller Generationen hineinzusprechen. Das Liederprojekt HERZ+MUND, das ich mit Martin Buchholz gemeinsam betreibe, sehen wir nur als ein kleines Pflänzchen in einem bunten kreativen Garten. Viele Kollegen und Freunde arbeiten ebenso an neuen Liedern und Konzepten für unsere Gottesdienste und Gemeinden.

3. Realistisch betrachtet, werden die Konzertformate der näheren Zukunft zunächst kompakter sein müssen, um den Abständen auf der Bühne und den niedrigeren Besucherzahlen durch Hygienekonzepte im wahrsten Sinne des Wortes Rechnung zu tragen. Wir sollten also in kleinen Besetzungen hohe Qualität bieten. Mein eigener Beitrag zu diesem Ansatz besteht in einem Duo-Format für Konzerte und Gottesdienste mit Flügel und Anna Dorothea Mutterer an der Violine. Wir nennen das Instrumentalprogramm "beflügelt" und bieten es pauschal statt 1x 90min als Doppelveranstaltung mit 2x60min an. Dieses "Doppelformat" ist für Veranstalter dadurch erschwinglicher und ermöglicht Künstlern, in dieser Zeit wenigstens überhaupt unterwegs sein zu können.

4. Wir sollten die Zeit nutzen, um auch digitale und technische Konzepte weiterzuentwickeln. Von der uralten Gemeindehomepage über die krächzende Lautsprecheranlage bis hin zum zum fehlenden WLAN: es gibt viel aufzuholen, wenn wir Schritt halten und auch die technischen Rahmenbedingungen für gute Musik in unseren Kirchen schaffen und optimieren möchten. Ich habe den Eindruck, dass sich auf diesem Gebiet bereits sehr viel tut. Für die vielen kleinen Gemeinden jedoch, die nicht über die notwendige Infrastruktur verfügen, um regelmäßig alle musikalischen Elemente eines Gottesdienstes digital auf hohem Niveau anbieten zu können, sollten wir an plattformbasierten Lösungen arbeiten. Im Rahmen des HERZ+MUND Projekts arbeiten wir derzeit mit Hochdruck an interaktive

Wenn Kirchen und Gemeinden also jetzt wieder den Anspruch entwickeln und umsetzen, wie in den vergangenen Jahrhunderten Orte von kultureller Exzellenz und Relevanz zu sein, können sie damit einen wichtigen gesellschaftlich-kulturellen Beitrag leisten und gleichzeitig gegen ihr zunehmendes Relevanzproblem ankämpfen. Wir können jetzt Vielfalt demonstrieren, wo wir sie so sehr vermissen. Wir können jetzt die Seelsorger und Herzenswärmer einer zunehmend ausgelaugten Gesellschaft sein. Das, was wir zu sagen und zu singen haben, war lange nicht mehr so nötig wie heute und war gleichzeitig lange nicht mehr so außer Konkurrenz wie heute. Möglicherweise werden die Kritiker nicht lange auf sich warten lassen: einmal mehr nutze die Kirche ihre Privilegien aus und untergrabe unter dem Deckmantel geistlicher Veranstaltungen nicht nur die geltenden Hygieneauflagen, sondern auch den solidarischen Umgang mit der Bürde der Pandemie-Beschränkungen. Es benötigt nur wenig Fantasie und Beobachtung um zu erkennen, dass Kritik am Handeln der Kirchen zwar unter vielerlei Vorwänden, aber meistens aus den gleichen Mündern dröhnt. Meine eigene Erfahrung und die vieler Kolleginnen und Kollegen hat gezeigt, dass kirchliche Veranstaltungen während dieser Pandemie unter überdurchschnittlich gut organisierten Hygieneauflagen geplant und verantwortungsvoll umgesetzt wurden. Das ist auch deswegen besonders in Kirchen möglich, weil das Ehrenamt dort eine wichtige Rolle spielt. Menschen investieren ihre Freizeit, ihr Geld und ihr Herzblut, um Begegnung und Leben passieren zu lassen.

Also, machen wir noch mehr Gebrauch von unseren Möglichkeiten! Wenn wir unsere tausende Kirchengebäude nutzen, um in dieser Zeit relevante Inhalte und gute Musik, ob klassisch oder populär, zu den Menschen zu bringen, können aus Denkmälern wieder Hoffnungshäuser werden. Gott sei Dank gibt es sie bereits, diese Leuchttürme in Form und Person von unerschrockenen Pfarrerinnen und Pfarrern, Kantorinnen und Kantoren und vielen engagierten Menschen, die weder Gegenwind noch Verantwortung scheuen. Die von Nächstenliebe, diakonischem Geist und Ethos angetrieben sind. Die besonders in dieser Zeit mit neuen Konzepten, zeitgemäßer Musik und progressiven Ideen die steigende Zahl an Menschen erreichen möchten, die auf der Suche nach Trost und relevanten Inhalten sind. Wenn sich diese Leuchttürme sukzessive vermehren, indem sie voneinander lernen, Unterstützung erfahren und einander inspirieren und ermutigen, dann wird bald aus mehr Lichtern ein Lichtermeer. Wenn nicht jetztm wann dann?

Timo Böcking



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