ZUKUNFTSWERKSTATT | Nr. 8 | 22.04.2021

Braucht die fromme Musikszene einen "Music Score"?
 
Die Älteren unter uns kennen den "Nutri Score" noch aus ihrer Schulzeit. Seinerzeit nannte er sich "Schulnoten" und vergab eine 1 für sehr gut, eine 2 für gut, eine 3 für befriedigend, eine 4 für ausreichend, eine 5 für mangelhaft und eine 6 für ungenügend. Das war natürlich alles viel zu grob und ungenau, deshalb erfand man die Punktewertung, die es eigentlich auch schon vorher gab. Die 1 hatte dann 3 "Nuancen" und 3 Punktzahlen, also 1+, 1 und 1- und 15, 14 oder 13 Punkte. Bei der 6 = ungenügend blieb es bei den traditionellen null Punkten. Wie auch in Zeiten der Schulnoten wäre eine Differenzierung in 6+, 6 und 6- sinnfrei gewesen…
 
So ganz brutal ist der neue (aus Frankreich importierte) "Nutri Score", die Nährwert-Ampel für Lebensmittel sicherlich nicht. Das"A" steht für hohe Nahrungsqualität und empfehlenswert für eine ausgewogene Ernährung, das "E" symbolisiert lediglich, dass ein Produkt eher in Maßen genossen werden soll, weil es besonders viele Kalorien, Zucker, Fett oder Salz enthält. Hinter jedem Buchstaben stehen trotzdem aber auch Werte. Von -15 bis +19 reicht die Skala der Bewertungsoptionen. Je niedriger die Punktzahl, desto besser fällt die Bewertung aus. A wären demnach also -15 Punkte.
 
Den Nutri Score gibt es seit 2017, bei uns eingeführt wurde er 2019 und zeitgleich wurde auch das Bewertungssystem für "weiße Ware" gravierend verändert, also alles von Haartrockner über Kühlschrank bis Kaffeemaschine. Sozusagen über Nacht fanden sich viele Geräte in Kategorien wieder, die man als überaus verkaufsmindernd bezeichnen konnte. Das war insofern erschreckend, als dass es bis dahin nur von Pluspluspluszeichen nur so glänzte und sich alles top und effektiv und klimafreundlich präsentierte. Industrie und Handel war es über Jahre gelungen, die eigentlich guten Maßstäbe und Bewertungskriterien so zu verbiegen und zu verrücken, dass alles "gut" und "sehr gut" schien, obwohl die Bewertungszahlen eher grottenschlecht waren.
 
Es steht zu befürchten, dass man dies auch beim Nutri Score versuchen wird. Wer kauft denn jetzt noch ein Nahrungsmittel, das mit dem Buchstaben E auf roter Farbe für sich wirbt? Ich habe noch kein Produkt mit dieser Kennzeichnung finden können und auch bei den Farben Orange und Gelb bin ich bei meinen Lebensmitteleinkäufen bislang noch nicht fündig geworden. Andererseits erhebt man manchmal auch erstaunt die Augenbrauen, wenn man sieht auf welchem Produkt ein A auf grünem Hintergrund prankt. Und die Kennzeichnung "Bio" scheint auch nur in den wenigsten Fällen mit A/Grün übereinzustimmen.
 
Und: der Nutri Score ist eine freiwillige Angelegenheit. Die Hersteller sind nicht verpflichtet, den Code zu verwenden. Trotzdem wird der Nutri Score nicht nur zu Werbezwecken eingesetzt werden, sondern auch dazu beitragen, dass Hersteller "ihre Produkte hinsichtlich der Nährwertqualität und den Inhaltsstoffen so anzupassen, dass diese besser bewertet werden" (Zitat aus Gesundheitskompass Südwestfalen Februar 2021). Das wäre dann in der Tat ein positiver und nachhaltig wirkender Impuls.
 
Das Musikmachen kennt zwar keine Scores und Schulnoten, aber das Bewertungsprinzip gehört trotzdem zu den Selbstverständlichkeiten. Die musikalische Leistung wird gemessen, bewertet und beurteilt, wobei dies immer auch über faktische Aspekte hinaus geht. Viel Subjektives spielt eine Rolle und entscheidet über die Akzeptanz musikalischer Darbietung. Selbstverständlich werden auch Unterschiede gemacht. Wenn sich ein Kind das erste Mal wagt, vor Publikum zu treten, dann wird das immer anders bewertet werden als der Auftritt eines Profimusikers, der zweihundert Konzerte spielt im Jahr. Die Kriterien sind trotzdem einheitlich und gelten in allen Musikgenres. Was "gut" ist, wird auch seine Zuhörer finden und das betrifft sowohl die Konzerte, als auch die Tonträger - oder was auch immer man heute irgendwie zu Geld machen kann. Musiker verkaufen heute nicht nur Musik, sondern auch Bücher und Selbstgestricktes, was in Corona-Zeiten ein Stück weit das Überleben sichert…
 
Musik ist heute nicht mehr "nur" Musik. Das bewegte Bild hat sich schon lange mit dem Musizieren verheiratet und "Corona" hat der Virtualität und der Digitalisierung auch die allerletzten Tore und Türen geöffnet. Zukünftig wird nicht nur die "Schönheit" der Musik von Relevanz sein, sondern auch die "Schönheit" der Musizierenden und ihrer Darbietung. Nur wer es versteht, sich medial ideal zu präsentieren, der wird auch Musik los werden im Sinne von Aufrufzahlen und verkauften Streams. Sicherlich wird das Radio auch weiterhin seinen Platz behaupten, aber die Erweiterung der Wahrnehmung und der Beurteilungskriterien auf die mediale Adaption von Musik wird eklatant sein und gravierende Folgen haben.
 
Soll heißen? Die Musiker werden sich wesentlich mehr einfallen lassen müssen, wie sie ihre Musik den "Nutzern" nahebringen können. Manuskript, Choreographie, Beleuchtung, Ton, Bildführung - alles nix Neues, aber nun zwingend, wenn das "gut" aussehen soll, was sich da auf dem brutal objektiven Bildschirm präsentiert. Da kann sehr schnell alles "gelb" und "rot" werden, was man selbst gern als "grün" sehen möchte und in vergangenen Zeiten auch so hat sehen können. So erfreulich es ist, dass auch die Musik in Corona-Zeiten sehr schnell den Livestream entdeckt hat, so unvorteilhaft bis grottenschlecht sind die meisten Ergebnisse, die man derzeit sieht. Aber genau so gilt: Was gut gemacht ist, das findet auch heute seine Zuschauer und Bezahler.
 
Ja, ein "Music Score" wäre keine schlechte Sache, aber wirklich gebraucht wird dieses Bewertungssystem auch nicht. Das regelt die Musik seit Menschengedenken auf eigene Weise. Auf Dauer wird sich nur das durchsetzen, was (seine eigene) Qualität hat und genau die gilt es anzustreben. Es wird nicht jeder in der Weltliga mitspielen können, aber dort, wo man hingestellt ist, da sollte man "Spitze" sein!
 
Hans-Martin Wahler



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